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Wer das Leben liebt, muss auch die Liebe lieben

oder die verpasste Chance:

Im letzten Spätherbst besuchte ich eine kleine, aber sehr feine Literaturveranstaltung im Waldviertel. Dort stand auch eine nette alte Bekannte mit ihren Gedichten zur Liebe auf dem Programm. Ich kannte die Autorenkollegin als sehr schillernde Persönlichkeit mit vielen interessanten Facetten. So hatte sie beispielsweise eine langjährige Ausbildung zur Schamanin in Hawaii genossen und praktizierte diese Fähigkeiten professionell. Gelegentlich veranstaltete sie hawaiianische Liebesrituale. Ich mochte Magenta, so nannte sie sich als Künstlerin, weil sie eine sehr liebenswürdige und überaus einfühlsame Persönlichkeit war.

Als sie mich sah, begrüßte sie mich sofort mit all ihrer verfügbaren Herzlichkeit. „Schön, dass du gekommen bist!“, sagte sie und nahm meine beiden Hände in ihre, sah mir direkt in die Augen und fuhr fort: „Weißt du, was die Menschen am häufigsten als Antwort geben, wenn man sie am Sterbebett fragt, was sie am meisten im Leben vermisst haben?“

Ich wusste nicht, wie mir geschah. „Das wird sehr unterschiedlich sein“, mutmaßte ich.

„Nein, nein“, widersprach Magenta, „es ist fast immer dieselbe Antwort. Du wirst es nicht glauben, aber die meisten bereuen es, in ihrem ganzen Leben nie wirklich richtig geliebt zu haben!“

Ihr Blick strahlte dabei eine unverkennbar deutlich erotische Einladung aus. Ich wusste, dass dieses Problem auf sie persönlich sicher nicht zutraf, sondern mir galt. Sie hatte ja bereits fünf Kinder von fünf verschiedenen Männern.

Mir saß daher trotz der Überraschung auch ein wenig der Schalk im Nacken und so antwortete ich spontan: „Gleich jetzt?“

„Na ja, die Vorstellung sollten wir schon noch abwarten“, meinte sie schelmisch.

Es wurde dann auch ein sehr schöner, stimmiger Abend. Ihre Gedichte strahlten tatsächlich viel Liebe aus und auch die anderen Beiträge kamen allesamt sehr gut beim Publikum an. Es gab dazu kleine, aber feine Imbisse, hervorragenden Wein und zuletzt einen hausgemachten Punsch. Die Gäste zeigten sich gut gelaunt und forderten noch einige Zugaben, so dass es schließlich ziemlich spät wurde. Mit Fortdauer des Abends stieg in mir ein mulmiges Gefühl hoch, speziell ob meiner kecken Bemerkung. Es wunderte mich, wegen meines losen Mundwerks nicht schon viel öfter ernste Probleme deswegen bekommen zu haben. Jedenfalls war mir nicht wirklich nach einem schamanischen Liebesabenteuer zumute, um vielleicht sogar ihren Nachwuchs auf das halbe Dutzend voll machen zu dürfen.

Als sich die Gesellschaft langsam auflöste, nahm ich jedenfalls all meinen Mut zusammen und sprach sie direkt darauf an: „Du, ich denke, es ist heute schon sehr spät geworden, wir sollten es ein anderes Mal nachholen.“

Sie lächelte nur und sagte „Pass nur auf, dass du nicht auch einmal zu besagter Gruppe gehören wirst.“ Denn wer das „Leben liebt muss auch die Liebe lieben“. Ja, wer das Leben liebt, muss auch die Liebe lieben wiederholte ich. Da nahm sie meine rechte Hand, fuhr über die Lebenslinie und beruhigte mich: „Du hast Glück, noch bleibt dir ja genügend Zeit.“

Ich fürchte allerdings, dass ich höchstwahrscheinlich doch nie erfahren werde, was mir da entgangen ist.

 

Copyright Rudolf Bulant August 2015

Bild: Paul Gauguin, Aha oe Fell (aka What Are You Jealous), 1892